Wenn ein Restaurant mit einem jungen, aspirierenden (=mein Wort für aufstrebend ;=)) Koch über Jahre konstant gute Berichterstattung in Blogs und anderen Medien erhält, dennoch aber nicht über “nur” einen Michelin-Stern hinaus kommt, stellt man sich als Besucher in erwartender Vorfreude zwangsläufig auch Fragen; vor allem Fragen wie “ist das Lokal nur gehyped?”.
Auch während unseres Essens in der Grenouillère, dem in idyllischer Landschaft gelegenen Restaurant von Alexandre Gauthier, kommen immer wieder Fragen auf, die viel mit der klassischen Erwartungshaltung gegenüber Sternelokalen zu tun haben, wo man mit jedem Gericht ein neues Highlight, das erneute Abbrennen eines Feuerwerks erwartet. Mit dieser Haltung riskiert man in der Grenouillère enttäuscht zu werden. Hier muss man geduldig sein, zuhören. Auch wir haben uns viele Fragen gestellt – erst ab der Mitte des Menüs hat es dann bei uns “Klick” gemacht.
Der sehr herzliche Maitre D’ und Sommelier Pascal Garnier ist fragende Mienen wohl gewohnt, erkennt wohl auch unsere. Er kommt uns zuvor, sagt, dass viele Gäste einen Moment brauchen bevor sie die Küche verstünden. Er betont dass “le chef” gerne von einer “cuisine d’auteur” spricht.
Nach dem Essen, beziehungsweise, nach einer Verarbeitungsphase danach, ist alles glasklar. Alexandre Gauthier interpretiert seine Region, sein Umfeld zwischen Atlantik und Froschdümpel. Sein Handwerk und seine Kreativität sind eine Art Medium, um diese Welt auf unsere Teller zu bringen.
Man wird auf eine kleine Reise mitgenommen, auf der man zunächst ruhige, geschmacklich fast belanglos anmutende Kompositionen aufgetischt bekommt, die dann aber immer intensiver werden. Es erwartet einen ein linear ansteigendes Erlebnis, wo schlussendlich das letzte Dessert in puncto Geschmacksintensität den Höhepunkt darstellt. Zudem erzählt Gauthier eine Geschichte, in der jedes Gericht nicht als einzelnes strahlt sondern das Menü in seiner Gesamtheit erfasst werden muss. Selten ist ein roter Faden deutlicher zu erkennen als hier.
Und um auf die Frage der Michelin-Sterne zurück zu kommen. Wenn man das Erlebnis hinter sich gebracht, die Person Gauthier kennengelernt hat, erübrigt sich diese fast. Er ist ein absolut entspannter Typ, der sein Essen und sein Restaurant gerne als eindrückliches Statement verstanden wissen will, aber den Rummel um seine eigene Person eher nicht mag. Trotz Kunst auf dem Teller ist er kein Freund von Firlefanz. Seine Kreationen sind so einfallsreich wie simpel in der Ausführung. Teilweise brutal puristisch und doch minutiös durchdacht. Das Erlebnis muss in der Gesamtheit des Besuchs und des Essens gesehen werden und es ist singulär. Und, ach ja, die Sterne, ich glaube fast ihm sind die Sterne egal.
Der verwunschene Eingang zur Grenouillère. Ein bisschen Entdeckungsreise kann einen hier an jeder Stelle erwarten.
Die Grenouillère von aussen. Die beiden spitzen Konstruktionen hinter dem alten Haupthaus sind die Dächer von Küche und Essaal.
Wenn man an diesem Ort in Montreuil-sur-Mer eintrifft, muss man unweigerlich an die Pariser Guinguettes, diese Tanzlokale entlang der Seine, denken, in welche die Pariser des 19. Jahrhunderts in Massen strömten, um der Stadt zu entfliehen und sich günstig zu amüsieren, und welche auch die impressionistischen Maler dieser Epoche inspirierten (hier ein paar Beispiele). Eines dieser (von hier sehr weit entfernten) Tanzlokale hiess tatsächlich Grenouillère. Doch inwieweit es einen Zusammenhang gibt, habe ich nun nicht erforscht.
In einem Seitenraum, dem sogenannten Salon nehmen wir Aperitif und Amuses-Bouches zu uns. Ein riesiger alter Kamin, in dem früher offensichtlich auch gekocht wurde, belegt eine Seite des Raums. Die Wände sind fast schief, alte Teppiche bedecken den Steinboden. Die Tapeten und Simse werden verziert durch Froschfiguren aller Farben, Größen und Stilrichtungen.
Die angebotenen Amuses-Bouches sind sehr vielfältig und stimmen auf eine naturnahe, saisonale Küche ein. Genaue Notizen habe ich mir hier leider nicht gemacht, da ich nebenbei noch die Weinkarte in den Händen hielt (letztendlich haben wir die Auswahl jedoch dem Sommelier überlassen). Die Karten für Wein und Essen werden übrigens stilecht auf zerknitterten Papier ausgeteilt. Nach sehr kurzer Überlegung haben wir uns für das 11-Gänge Menü (120 €) und die begleitenden Weine (65€) entschieden.
Vom Salon im Hauptteil des alten Gasthauses geht es über einen dunklen Gang in den neuen Anbau, wo wir dann auch den Rest des Abends verbringen werden.
Es wirkt hier alles moderner als im Salon, dennoch fügt sich der Raum perfekt in die Umgebung ein. Der polierte schwarze Betonboden und die dunklen Eisenkonstruktionen vom Dach kontrastierten über eine Rundumverglasung mit einem wunderschönen Garten. Das Licht der untergehenden Sonne strömt in den Saal und schafft eine Atmosphäre der erwartungsvollen Gemütlichkeit.
Der enorme Abzug hängt über einer eisernen Arbeitsfläche für den Service, von der Später eine Gasflamme hochsteigen wird, welche dann die Abendatmosphäre schafft (man erkennt auf dem Foto die spiralförmige Gasleitung). Das ganze Design hat was von “Steam Punk” meets Schlumpfhaus, im positiven.
Die Tische sind mit Leder überzogen. Als einziges Schneidewerkzeug erhalten wir ein mächtiges, gut in der Hand liegendes Messer, welches von einer renommierten Manufaktur in Laguiole eigens für das Restaurant hergestellt wurde. Es wird uns den ganzen Abend lang begleiten und gleichermassen zum Bestreichen des Brots, als auch zum seltenen Schneiden von Fisch und Fleisch unserer Gerichte dienen. Eine geniale Idee, die gleichzeitig auch Signalwirkung hat: Wir sind im schnörkellosen, rustikalen Frankreich, wo das gute Essen im Mittelpunkt steht und nicht ein sich ewig wiederholendes Auswechseln von Silberbesteck. Das Messer kann man übrigens auch für satte 180€ kaufen – wir haben trotz überzeugender Verwendung des Werkzeugs davon abgesehen.
Als nächstes kommt eine dicke Holzplatte mit Brot und Butter auf die Mitte des Tischs. Und sie blieb da quasi bis zum Ende. Auch dies ein Statement.
rouleau de bar – es fängt sehr ruhig an. Ein Stück roher Seebarsch – von hoher Qualität – ist in Scheiben von grünem Spargel eingewickelt. Dazu gibt es einen Tupfer zitronig-fischige Crème. Das schmeckt frisch und mutet puristisch an. Doch mein zweiter Gedanke ist dann schon “fast etwas langweilig”. Ich frage mich, was der Chef uns hier sagen will? Doch zu diesem Zeitpunkt haben wir nur den ersten kleinen Schritt einer langen Reise gemacht und wir konnten noch nicht ahnen, dass dies hier nur den Anfang des roten Fadens darstellt und welche Bedeutung das Essen in seiner Gesamtheit haben wird.
asperges vertes – Grüner Spargel, heisst es hier lapidar. Und auch dieses Gericht dient größten Teils dazu, einen in die Welt von Gauthier einzutauchen. Man sieht dieses kleine Kunstwerk, der Spargel reckt sich nach oben, wie Schilf am Teichrand. Die kleinen schwarzen Kügelchen – kein Kaviar sondern Zwiebelkonzentrat mit Balsamico als Sphären – schaffen die Illusion von Kaulquappen im eben angedeuteten Teich. Wir befinden uns auf einmal in der Landschaft, die das Restaurant umgibt. Saftige Wiesen, Froschteiche, sumpfartige Gefilde. Die rohen Spargelspitzen stehen auf Butter und Kräutern, alles ist knackig, grün und frisch. Die Kugeln sorgen für einen angenehmen Säureakzent. Der Geschmack ist aber im positiven Sinne nebensächlich, doch diese Erkenntnis sollte sich auch erst im Laufe des Abends bilden.
tiges, huitre snackée – Meer und Moor kommen auf diesem Teller wieder zusammen. Im Zentrum eine prachtvolle gebratene Auster, eher fleischig und süß als salzig. Dazu Grünzeug und wilder Spargel, deren Eigengeschmack nicht sehr groß ist. Wieder ein recht leises Gericht. Meine Gedanken vom letzten Gang wiederholen sich.
Die Weinbegleitung entpuppt sich zunächst als out of the ordinary, was ich gut finde. Als erstes haben wir einen fast orange leuchtenden Sauvignon Blanc vom Vin Naturel Weingut Les Vins Courtois im Glas. Hier geht es mehr um Textur, Präsenz und Länge als darum, die Resborte erkennbar zu machen.
Saint Pierre – ein schönes Stück Fisch, zugleich fest und zart, mit reinem Geschmack. Dazu knackige Stücke von der “Schnippelbohne”, etwas Salicorne und ein bisschen salzig-bittere Sepiatinte. Das salzige ist etwas unterrepräsentiert auf dem Teller. Ein Eindruck, der immer wieder kommen wird und wohl Teil des Konzepts ist.
Als zweiten Wein erhalten wir einen wunderbaren Chenin Blanc, ein Savennières von Eric Morgat.
raviole jaune – Hier wird es nun endlich etwas plakativer. Ein recht dickes Stück Nudelteig ist mit einer Art intensiven Anchovi-Butter und Ziegenkäse gefüllt, dazu gesellt sich jede Menge Frische vom daraufliegenden Kerbel.
Der dazu servierte Rotwein (!), ein Saint-Pourcain von der Familie Laurent besteht zur Hälfte aus Pinot Noir und zur anderen Hälfte aus Gamay und passt aufgrund seiner Süffigkeit ganz gut zum Fisch.
sole, rhubarbe, coques – Jetzt wird es bei der Konfrontation zwischen Meer und Land extremistisch. Eine harte, salzige Brandung trifft auf säurehaltige frühlingshafte Gewächse. Das hochwertige Fleisch der Seezunge ist bissfest und wird allein durch das strenge Wasser der fast rohen Herzmuscheln gesalzen. Die Säure des knackigen Rhabarbers gibt Kontra. Die Pimpinelle sorgt für Frische. Ein provozierendes Gericht, dass urplötzlich, nach dem “ruhigen Start”, die Aromen-Intensität auf die Spitze treibt und alle Geschmacksrezeptoren erdbebenartig ausschlagen lässt.
grenouille meunière – In Frankreich habe ich schon ein paar Mal den Klassiker Frosch-Schenkel mit Knoblauch, Butter und Petersilie gegessen. So far so good. Doch das hier toppt alles. Leckeres weisses Fleisch in einer genialen süffigen Sauce. Zuerst vermute ich den Einsatz von Kalbsjus in der Zitronen-Butter Sauce. Daneben! Der Maitre klärt mich über das Geheimnis auf: Ein paar Tropfen Sojasauce geben dem Gericht die Tiefe. Ein absolutes Highlight – zum Glück stehen noch ein paar Extra-Schenkel in der Metallschale – und es bleibt nichts übrig. Die Intensität der Aromen erklimmt eine neue Stufe.
couteaux – So werden in Frankreich die Stabmuscheln genannt, die hier als im Menü nicht niedergeschriebener Extragang serviert werden. Auch hier spielen Wiese, bzw. Wald und Meer zusammen. In der Muschelschale sind leicht säuerliche, Pfifferling-artige Pilze zu finden. Die Süße kommt diesesmal vom Muschelfleisch, das separat serviert wird. Ein bisschen Nussbutter rundet die Sache ab. Wir haben hier quasi das Gegenstück zum Gericht mit den Coques, wo die Salzigkeit, die Stringenz vom Muschelwasser, also vom Meer kam. Hier kommt nun das wohlige, Süße, der Charme aus dem Meer.
Spannend auch der nun servierte Pinot Noir, von einer elsässischen Winzergenossenschaft stammend. Er bietet eine Qualität die seine Herkunft nicht vermuten lassen würde. Manche Genossenschaften haben die Zeichen der Zeit erkannt.
veau, ail des ours, petits pois – Bärlauch und Erbsen begleiten hier ein saftiges, zartes Stück Kalb, dazwichen steckt eine Scheibe aus getrocknetem Knoblauch und als weitere Begleitung erhalten wir ein Stück frisches Brioche-Brot in Zylinderform. Das Gericht passt zur Saison wie die Faust aufs Auge, und macht Spaß. Auch hier wird wieder ein neues Level der Aromenintensität erreicht, und das obwohl Gauthier relativ salzarm kocht. Eine Praktik von ihm, die man im Laufe des Abends immer besser versteht, wenn sich die Puzzle-Teile langsam zusammenfügen. Er will die Dinge so präsentieren, wie sie tatsächlich schmecken, wie sie das Land hergibt und möglichst wenig davon verfälschen.
Gauthier liebt es mit seinen Gästen zu spielen, ihnen das rohe, das unverfälschte auf den Tisch zu bringen und sie raten zu lassen. Er und sein Service-Team ziehen an einem Strang und so durften wir auch hier unsere Tipps abgeben. Dieses Mal war es jedoch einfach. Was die junge Dame aus dem Glasballon zieht, ist Met. Dieser wird von einem Imker aus der Umgebung speziell für ihn zubereitet und reift mehrere Monate in Holzfässern. Ein überraschendes Getränk, das aber natürlich super zu den folgenden Desserts passte.
Und wie kann es anders sein.. Zum Met gibt es “frische” Honigwabe, beträufelt mit etwas Zitrone.
Die Wabe wird gekaut, schmeckt gleichermaßen frisch und süß. Das Wachs kann man wieder auswerfen.
pêche, gentiane – Pfirsich mit Enzian. Eine sehr fruchtig-frische Pfirsich-Crème wird von einem Zuckerblatt-bedeckt. Man spürt, der Sommer kommt mit großen Schritten. Die vollreifen Pfirsiche stammen aus Südfrankreich.
fraise, pomme de terre – Schon lange hatte ich keine Kartoffel mehr als Nachtisch. Doch lediglich die gelben Flocken obenauf bestehen aus der Erdknolle. Die Überraschungsei-große Kapsel in der Mitte besteht aus weisser Schokolase und beinhaltet ein dermassen intensives Erdbeer-Purée, dass es einen glatt aus den Socken haut. Natürlich mit der entsprechenden Säure. Und genau das meine ich mit einem linearen Anstieg der Intensität über das gesamte Menü. Es hört nicht mit dem Hauptgang auf. Auch hier wird noch eine Schippe draufgelegt. Dass dies alles so gewollt und geplant ist, und nicht nur meine einzelne Wahrnehmung ist, erfahre ich dann auch hinterher im kurzen Plausch mit dem Chef.
rhubarbe, liseron – Rhabarber mit Windengewächs. Auch hier ist eine intensive Säure vorhanden, aber auch eine schöne Frische.
Extra-dessert – als ob wir nicht schon verwöhnt genug wären reicht uns die nette Dame ein zusätzliches Dessert bestehend aus Kirschen und frischer Mandel. 2 ganze Kirschen befinden sich in einem sehr rein schmeckenden Gelée aus weisser Mandel. Das Kirscheis schmeckt so intensiv wie es aussieht.
Sureau – Als abschliessende Erfrischung gibt es noch diese kleinen Juwelen, geeiste Holunder-Kugeln mit einem flüssigen Kern aus Holunderwasser.
..sowie kleine Pastillen Fruchtgelée
.. und ein Abschiedsgruß
So ging der Abend zu Ende, und zu diesem Zeitpunkt war mein Urteil noch gar nicht wirklich geformt. Noch schwirrten zahlreiche Eindrücke durch unsere Köpfe. Doch unsere Mienen waren auf jeden Fall andere als nach den ersten beiden Gängen. Bestimmt jene von kleinen Kindern, die zum ersten Mal etwas entdeckt oder erlebt haben.
Das wesentliche habe ich Anfangs schon gesagt und es macht keinen Sinn, es an dieser Stelle zu wiederholen. Alle die ein singuläres, naturnahes, saisonales, impressionistisches kulinarisches Erlebnis haben wollen, denen sei ein Besuch der Grenouillère nahe gelegt.
La Madelaine-sous-Montreuil
62170 Montreuil-sur-Mer.
Tel :+33 ( 0) 3 21 06 07 22
Noch ein paar Eindrücke und ein “impressionistischer” Abschlussgedanke:
Letzte Gäste!
Küche schon fast sauber
Und ah ja, so ist das Ambiente auf dem Weg zum WC. Hier läuft ein alter Film in Dauerschleife, und wieder muss ich an das impressionistische denken, an das was Monet und Renoir aus so einem Ort gemacht hätten. Im Grunde macht Gauthier nichts anderes, er malt ein impressionistisches Gemälde auf unsere Teller, wir erleben seine Eindrücke von der Gegend. So schliesst sich der Kreis.